Willst du Kontrolle oder Glück? (de)
- bschult3
- 16. Juni 2024
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Dez. 2024
Die Europawahlen sind vorbei und das Internet voll von Reaktionen auf die Ergebnisse. Die Alternativparteien feiern, Grüne sind echauffiert. Kommentatoren beschuldigen die sozialen Medien, welche die Jugendlichen mit ihren aufmerksamkeitserhaschenden und oberflächlichen TikTok-Inhalten zu extremen Positionen hin verleiten. In Frankreich stehen Neuwahlen an. All das regt mich zum Denken an. Scheinbar setzt sich kaum noch jemand ernsthaft mit den Inhalten, Sorgen und Bedürfnissen seiner politischen Gegner, d.h. seiner Mitmenschen, auseinander. Gerade hier in Freiburg sprießen Aktionen "gegen Rechts" aus dem Boden. Während ich dies so beobachte, frage ich mich, wie viele dieser Demonstranten sich jemals ausgiebig und ernsthaft interessiert mit einem AfD-Wähler unterhalten haben. Vermutlich nicht allzu viele. Ich frage mich auch, wie viele AfD-Wähler sich wohl die Schicksale von transsexuellen Menschen oder Flüchtlingen persönlich haben berichten lassen, geschweige denn Menschen mit diesen Herausforderungen zu ihren Freunden zählen. Wahrscheinlich eben so wenig. Mir scheint im Allgemeinen die Gesprächskultur und die Bereitschaft sich mit anderen Perspektiven und Schicksalen auseinander zu setzen rapide abzunehmen. Jeder weiß, dass er Recht hat und dass die Mitglieder der anderen Gruppen spinnen, ja dass es unmöglich ist mit ihnen zu reden und dass allein ihre Zugehörigkeit zur Grünen oder AfD sie als ernst zu nehmende Gesprächspartner disqualifiziert. Aber woran liegt das eigentlich? Warum sind wir so unfähig geworden miteinander zu sprechen, einander zu zuhören, ja uns mitmenschlich zu begegnen?
Nach langen Nachtgesprächen mit Freunden und ausgiebiger Grübelei bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es ein Thema gibt, was sowohl die Grünen, wie die AfDler, sowohl die Impfgegner, wie Impfbefürworter, sowohl die Wissenschaftler, wie auch die Spirituellen, sowohl die nervigen Businesscoaches auf LinkedIn, wie die unglücklichen Liebespaare eint: Die Angst vor Kontrollverlust.
Da es nun vielleicht etwas weit hergeholt erscheinen mag all diese Phänomene unter einen Hut zu stecken, werde ich diese Dynamik im Folgenden weiter erläutern.
Nehmen wir einmal an ich hätte Recht mit meiner Hypothese und die Angst vor dem Kontrollverlust ist tatsächlich, was all diese Menschen eint. Wie würde sich dies ausdrücken? Die logische Reaktion auf die latente Angst vor dem Kontrollverlust ist natürlich der Versuch (ein Gefühl von) Kontrolle herzustellen.
Kontrolle können wir nur haben, wenn wir es mit klaren Ursache-Wirkungszusammenhängen zu tun haben. In diesem Fall haben wir nämlich die Chance ein Gefühl der Kontrolle zu erlangen, indem wir ein erwünschtes Ergebnis mit der entsprechenden Handlung sicher erzeugen können, eben Ursache -> Wirkung. Aus der Angst vor Kontrollverlust ergibt sich also der Versuch Kontrolle zu erlangen, was wiederum zu einfachen Ursache-Wirkung-Erklärungsansätzen führt.
Genau das können wir nun in vielen der oben genannten Fällen beobachten. Für die Grünen und "Klimakleber" scheint die Lösung für alles in der Abwendung des Klimawandels zu liegen, was für sie am Ende eine Reduktion des CO2-Ausstoßes bedeutet. Ganz schön praktisch ein so komplex-chaotisches System, wie das Klima (bzw. Wetter), auf die simple Konzentration eines Gases in der Atmosphäre zu reduzieren. Das gibt doch ein wunderbares Gefühl von Kontrolle und Handlungsfähigkeit! Etwas, das uns wahrscheinlich schnell abhanden gehen würde, wenn wir die Komplexität (und Ungewissheit) aller Wirkzusammenhänge auf diesem Planeten und im Sonnensystem in Kombination mit der unvorhersehbaren individuellen Intentionalität der Milliarden von Menschen auf diesem Planeten in Betracht ziehen würden. Die Reduktion der Probleme auf einen einzigen Faktor, wie hier das CO2, gibt uns das Gefühl der Kontrolle, selbst wenn die tatsächliche Kontrolle schwer umsetzbar oder sogar eine komplette Illusion sein mag.
Ähnliches gilt für die Zuschiebung der Schuld für die eigenen Probleme auf die Einwanderer. Praktisch, denn so muss ich meinen eigenen Lebensentwurf nicht hinterfragen und kann die eigene Verantwortung für mein Leben verleugnen. Ich muss nicht eintreten in einen Selbstwerdungs- und Reflektionsprozess, dessen Ausgang ich nicht voraus zu sehen vermag. Dank einfacher Antworten kann ich das Gefühl der Kontrolle aufrechterhalten. Die Lösung für alles, Ausländer abschieben.
In beiden Fällen wird die Dynamik der vereinfachenden Welterklärung zu Gunsten eines Gefühls der Kontrolle schnell deutlich. Doch ich möchte noch etwas tiefer schürfen und die Themen Wissenschaft, sowie Spiritualität beleuchten. Denn auch hier zeigt sich unser omnipräsentes Streben nach Kontrolle.
Gehen wir zunächst einmal die Wissenschaft an. Was ist Wissenschaft? Einfach ausgedrückt ist Wissenschaft der Versuch durch Beobachtungen und theoretische Modelle zu einem Ursache-Wirkung-Verständnis der Welt zu gelangen. Dieses nutzen wir dann um die Welt zu unseren Gunsten zu manipulieren. Sei es in der Entwicklung neuer Technologien, im Verstehen und Beeinflussen sozial-politischer Dynamiken oder in der genetischen Veränderung von Pflanzen und Tieren. Das Ziel von Wissenschaft ist immer ein anwendbares Wissen von Wirkzusammenhängen. Eine Theorie, die nichts erklärt, die uns keinen Ansatzpunkt gibt etwas zu verändern, kann in dem Sinne nicht als wissenschaftlich bezeichnet werden, sie schafft kein Wissen. Die Wissenschaft ist in dieser Hinsicht der ultimative Ausdruck des Verlangens nach Kontrolle. Wer kein Interesse an der Veränderung der Welt hat, dürfte von wissenschaftlichen Erklärungsansätzen wenig beeindruckt sein. Er wird einfach die Schönheit der Welt genießen ohne sich von komplizierten Kunstbegriffen beirren zu lassen.
Nun kann man zurecht einwenden, dass Wissenschaft doch mindestens ebenso sehr ein Ausdruck der Neugier des Menschen ist, wie des Verlangens nach Kontrolle. Dem stimme ich absolut zu. In Wirklichkeit ist es nicht die Wissenschaft, die ein Ausdruck des Verlangens nach Kontrolle ist, sondern die Erhebung der Wissenschaft zur Ideologie mit alleinigem Wahrheitsanspruch. Ein wahrer, von Neugier getriebener Wissenschaftler würde sich nie dazu verleiten lassen von Wahrheit, sicherem Wissen oder Beweisen in Bezug auf wissenschaftliche Ergebnisse zu sprechen. Er würde stehts bei der Wahrheit bleiben, dass Wissenschaft immer nur Annäherungen an die Wirklichkeit bieten kann. Er würde immer sagen, dass etwas nach wissenschaftlichen Erkenntnissen so und so scheint, nie dass es so und so ist. Der Unterschied zwischen Wahrheit/Realität auf der einen Seite und wissenschaftlichem Erklärungsansatz auf der anderen Seite wäre ihm immer absolut präsent. Für den wahren Wissenschaftler ist die Wissenschaft eine genussvolle Exploration der Realität, ähnlich der Exploration der ästhetischen Möglichkeiten eines Künstlers. Kein Künstler würde mit seinem Werk je einen Wahrheitsanspruch vertreten und genauso wenig ein wirklicher Wissenschaftler mit seinen Hypothesen.
In unserer heutigen Gesellschaft werden wissenschaftliche Theorien jedoch gerne als Wahrheit hingestellt, sowohl von Wissenschaftlern selbst als auch von Politikern, Ärzten oder sonstigen Menschen, die ihre persönliche Meinung faktisch zu untermauern versuchen. Unsere Verwechslung von Wissenschaft mit Wahrheit ist ein Ausdruck genau dieses weit verbreiteten Strebens nach Kontrolle und Sicherheit.
Ähnliches passiert im Bereich der Spiritualität, Psychologie und von Self-Help. Kaum ein Tag vergeht an dem nicht ein neues Buch mit den besten 5 Tipps und Tricks erscheint, um Glück und Erfolg in unserem Leben zu manifestieren. Voraussagen der Zukunft mit Hilfe von Kartenlegen, Atemtechniken für ein erfülltes Leben, Glaubenssätze für ein starkes Selbstbewusstsein, die beste Meditation für mehr Selbstliebe. All diese Versprechungen, Techniken, Methoden, etc. sind lediglich ein Ausdruck des Wunsches nach Kontrolle. Sie geben einfache Antworten auf zu komplex scheinende Probleme unseres eigenen Lebens, damit wir das Gefühl aufrechterhalten können, dass wir etwas tun können, dass wir uns ändern können, dass wir das Ruder unseres Lebens in der Hand haben. Genau das Gleiche passiert in der Businesswelt. Tausende von Businesscoaches, die uns erzählen wollen, wie wir mit ihrem Kurs, mit ihren Methoden ganz einfach zum Erfolg kommen. Und die Antwort ist immer die gleiche: Kaufe einfach dieses (mein) Buch, Coaching, Seminar oder diesen Videokurs und das Glück ist dir sicher. Geld gegen Glück. Eine einfache Antwort auf ein komplexes Problem. Die Angst vor Ohnmacht wieder einmal erfolgreich vermieden!
Als Letztes will ich kurz mein Beispiel mit den Liebespaaren ansprechen. Es zeigt nämlich schön, dass es bei der Angst vor Kontrollverlust nicht immer um Zusammenhänge in der Außenwelt geht. Wer kennt die Situation nicht, man verliebt sich in einen Menschen, beginnt möglicherweise auch eine Affäre, doch dann kommen Ängste auf. Man erfährt, dass der andere Mensch womöglich bereits in einer Beziehung ist, dass er in zwei Monaten in ein anderes Land zieht oder verspürt einfach eine allgemeine Angst verletzt zu werden. Meist gehen die Gefühle mit dem Versuch einher Kontrolle und Sicherheit in Form von Abmachungen und Regeln herzustellen. Man entscheidet sich "zusammen zu sein", exklusiv zu sein, verspricht sich, dass die Liebe für immer halten wird und man immer ehrlich miteinander sein wird. Oder es geht andersrum und wir verlieben uns in einen Menschen und leugnen unsere Gefühle, um nicht am Ende enttäuscht zu werden. Wir erzählen unseren Freunden, dass wir die Person sowieso nur freundschaftlich interessant finden, es nicht funktionieren würde etwas mit einander anzufangen und dass die Gefühle ja sowieso nicht all zu stark sind. In beiden Fällen haben wir Angst vor dem Verlust der Kontrolle, wenn wir unsere Gefühle ungefiltert zulassen würden. Die Abmachungen und Rationalisierungen geben uns ein Gefühl der Kontrolle über unsere Gefühle zurück. Natürlich weiß jeder der einmal geliebt hat, dass Liebe nicht rational ist, dass wir uns nicht aussuchen können, in wen wir uns verlieben und dass Regeln nicht dafür sorgen, dass die Liebe für immer bestehen bleibt (sonst gäbe es wohl keine Scheidungen). All das tun wir also aus einer Angst heraus, die Kontrolle über unser Leben zu verlieren. Anstatt im Moment zu lieben und unserem Herzen zu folgen, hängen wir uns verzweifelt an die Illusion der Kontrolle.
Wir haben nun ausreichende Beispiele für die Omnipräsenz unserer Angst vor Kontrollverlust besprochen, doch was machen wir nun damit? Wie gehen wir mit diesem Dilemma um, dass wir in einer unkontrollierbaren Welt dauernd nach Kontrolle streben?
Manche, wie die Transhumanisten würden behaupten, dass das Streben nach Kontrolle ganz natürlich ist und wir es ernst nehmen sollten. Sie würden behaupten, dass unsere Aufgabe als Menschen tatsächlich darin besteht mit Hilfe der Technologie die absolute (gottgleiche) Kontrolle über das Universum und uns selbst zu erlangen. Solche Menschen glauben auch an die Effektivität von Verhaltenstherapie, sie glauben an einfache Lösungen in einer unendlich komplexen Welt.
Ich sehe das anders. Mir scheint die Angst vor Kontrollverlust zwar omnipräsent zu sein, aber eigentlich an der Wurzel unserer Probleme in der Welt zu stehen. Meines Erachtens nach macht uns das Streben nach einfachen Antworten blind für die Komplexität und Schönheit der Welt. Sie macht uns blind für die Wahrheit dessen was wir sind, was wir fühlen, was wir wünschen. Liebe gedeiht in der Freiheit, nicht im Zwang. Lernen passiert dort, wo wir uns mit dem Unverstandenen beschäftigen. Glück erleben wir, wenn wir anerkennen, wer wir sind, wenn wir unsere Bedürfnisse akzeptieren und zu ihnen stehen. Wir erleben, es nicht, wenn wir vor uns selbst wegrennen, wenn wir versuchen jemand zu sein, der wir nicht sind. Das alles bedeutet die Kontrolle aufzugeben. Die Kontrolle darüber, wer wir in unserem Wesen sind, darüber wie die anderen Menschen sind, darüber wie die Welt ist. Ich plädiere also für das zunächst Unangenehme, für die Aufgabe jeglicher Kontrolle, für die Akzeptanz dessen, was ist. Nur wer die Illusion der Kontrolle aufgibt, erlaubt sich die Chance zu erfahren, dass die Welt keiner Veränderung bedarf, dass sowohl die Welt, als auch er selbst, in seinem innersten Wesen liebend und gut ist. Das Festhalten an der Kontrolle trennt uns von dieser, schönsten aller Einsichten.
Mir ist natürlich bewusst, dass ein kleiner Text, wie dieser hier, kaum jemanden zu einer tiefgreifenden Veränderung der Lebenseinstellung bewegen wird. Und ich denke, dass ist durchaus in Ordnung. Ich möchte sogar dazu ermutigen mich mit allen Mitteln widerlegen zu versuchen. Ich bin davon überzeugt, dass derjenige, der sich ernsthaft auf die Suche macht, zu denselben Erkenntnissen kommen wird, wie ich. Ich denke jeder braucht eine ganz persönliche Menge an Rückschlägen bis er bereit ist die Illusion der Kontrolle aufzugeben und sich dem Leben und der Liebe hinzugeben. Daher stemme dich gegen dein Schicksal mit all deiner Kraft, kaufe jedes Produkt, jedes Buch, jedes Coaching, in welchem du dir dein Glück erhoffst, es wird dich nur näher an die Akzeptanz der Wahrheit führen. Und sollten die Transhumanisten Recht haben und wir die göttliche Allmacht und Kontrolle doch eines Tages erreichen, auch in Ordnung. Vielleicht führen dann doch viele Wege nach Rom. Fragt sich nur, ob wir Menschen dann noch existieren, um dies zu genießen...
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