Warum sind uns Zahlen so wichtig? (de)
- bschult3
- 26. Feb. 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Apr. 2024
Ich sitze in der S-Bahn. Neben dem Bildschirm mit den nächsten Haltestellen eine Infoanzeige. Reklame wechselt sich ab mit Quizfragen und nützlichen "Fast Facts". Einer dieser Facts: "Wusstest du, dass das Stirnrunzeln über 40 Muskeln benötigt?" Mein erster innerer Impuls: "Krass. Das sind ganz schön viele, die müssen ja winzig klein sein, diese Muskeln." Mein Blick schwenkt zur Seite, ich schaue aus dem Fenster. Mein zweiter Gedanke: "Was ist das eigentlich für eine belanglose Information? Was ändert es zu wissen, wie viele Muskeln beim Stirnrunzeln beteiligt sind? Hilft es einem weniger die Stirn zu runzeln? Mindert es die Sorgenfalten im Gesicht? Macht es uns zu besseren Menschen? Macht es uns liebevoller oder gibt uns Mut unseren Träumen nachzugehen? - Nein. All dies tut diese Information nicht. Sie ist komplett irrelevant für mein Leben. Ob es jetzt 5 oder 40 oder 12.367 Muskeln sind, die dafür sorgen, dass ich meine Stirn runzle, wenn ich über die Selbstverständlichkeiten unseres Alltags nachdenke, spielt absolut keine Rolle. Wieso reagiere ich also mit einem 'Krass.' auf eine komplett bedeutungslose Information?"
Der beschriebene 'schnelle Fakt' auf dieser Infotafel sollte Erstaunen und Interesse beim Leser auslösen. Und womit? Einfach nur durch die Nennung einer großen Zahl...
Ist das nicht total seltsam? Offenbar hat diese Information keinen Bedeutungsgehalt. Es ist vollkommen willkürlich in wie viel Teile man ein Phänomen aufteilt. Ich kann zum Beispiel einen Menschen als Summer seiner vier Gliedmaßen begreifen. Andererseits aber auch als Konstrukt seiner 656 Muskeln plus seiner 206 Knochen, seiner 79 Organe, etc. Ich kann ihn aber auch als Summer seiner 30 Billionen Zellen beschreiben oder bestehend aus 6 Quadrilliarden Atomen. Die Anzahl der Teile des Phänomens ist also immer abhängig davon in wie kleine Teile wir etwas unterteilen wollen. Am Ende kann man jedes Objekt (oder auch das Universum selbst) entweder als Summe unzählbar vieler Teile oder auch nur als ein einziges, großes Ganzen auffassen. Eine Information, wie dass das Stirnrunzeln über 40 Muskeln benötigt, ist also vollkommen willkürlich. Man könnte auch sagen:"Wusstest du, dass das Stirnrunzeln nur eine einzige Stirn benötigt?" Hier wird die Absurdität klar. Die Anzahl der Einzelteile des Phänomens hat keinen Aussagegehalt für das Phänomen selbst. Wie kommt man also auf die Idee, dass diese Zahl relevant wäre und wieso reagieren wir auch noch auf solche belanglose Zahlen, in einer Weise als ob sie es wären?
Möchte man jemanden beeindrucken, oder auch mundtot machen, so gibt es wenig effektivere Methoden als mit großen Zahlen um sich zu schmeißen. Besonders gut darin sind Wissenschaftler. Sie lieben es die Welt in Zahlen auszudrücken. Erst recht in großen Zahlen. "Der menschliche Körper besteht aus 100 Billionen Zellen." "Im gesamten Universum gibt es mehr als 100 Trillionen Sterne." "Der reichste Mensch der Welt besitzt 200 Milliarden US-Dollar."
Was für ein Unsinn.
Wenn man den Menschen liebt, in dessen Augen man schaut, was interessiert es, aus wie vielen Zellen dessen Körper besteht?
Wenn man in einer klaren Sommernacht in den ungetrübten Sternenhimmel blickt und ergriffen ist von der unbeschreiblichen Schönheit und Weite des Alls, was interessiert es, ob es Millionen oder Milliarden funkelnde Sterne sind?
Wenn sich ein Mensch benimmt, wie das letzte Arschloch, wenn er in seinen Mitmenschen nicht fühlende Individuen sieht, sondern sie nur auf den möglichen Nutzen für seinen eigenen Machtgewinn reduziert, was spielt das monetäre Vermögen dieses Menschen noch für eine Rolle?
Was wirklich zählt ist die Liebe, die wir füreinander empfinden, die Ehrfurcht im Angesichts der Schöpfung, der Charakter eines Menschen.
Eine zentrale Bedeutung haben Zahlen nur für Menschen, die nicht lieben. Für Menschen, die verlernt haben zu staunen. Für Menschen, die vergessen haben Mensch zu sein.
Wir sind in unserer Kultur von klein auf geprägt worden große Zahlen ernst zu nehmen, ihnen große Bedeutung zu zuteilen. Wir sind zur Unmenschlichkeit erzogen worden. Wir leben in einer Kultur, die vergessen hat, wie schön es ist Mensch zu sein, wie schön es ist zu lieben. Und das beides weder in Zahlen ausgedrückt, noch mit Geld gekauft werden kann. Doch Zahlen, egal wie groß sie auch sein mögen, sagen eben nichts aus über die Qualität eines Momentes.
Wenn uns dies klar wird, können wir wieder schmunzeln über die "Experten", die uns ihre Hypothesen aufdrücken wollen, die ihre Unsicherheit mit großen Zahlen zu überschatten versuchen. Wir lassen die Welt wieder an uns heran, unmittelbar, ungefiltert. Wir lassen uns vom Leben wieder emotional berühren.
Wir erlauben uns wieder zu staunen. Wir erlauben uns nicht zu wissen, wer wir sind und was wir wollen.
Wir geben dem Lächeln der sympathischen Putzfrau in der Kneipe wieder mehr Bedeutung als dem Lamborghini des seelenverkrüppelten Wirtschaftsmagnaten vor der Tür.
Wir werden wieder Menschen.
Aktuelle Beiträge
Alle ansehenHave you ever been in an argument with someone only to hear them talking about a study they have read recently to prove their point? The...
I have an unpopular opinion. More than an opinion indeed. It is an observation, a realization really gained after years of first-hand...
Wissenschaft besteht nicht im Festhalten und Weitergeben von Fakten über die Welt, sondern in der Entwicklung der persönlichen Fähigkeit...